Physikfrage

Es gibt da eine Physikfrage, die mich seit längerem umtreibt. Irgendwie komme ich nicht so recht weiter - vielleicht hat ja einer der Physiker hier den entscheidenden Hinweis für mich.

Also: In vielen Quellen wird die magnetische Lorentzkraft auf die elektrostatische Coloumbkraft zurückgeführt. Die Argumentation ist immer die gleiche und auch recht schlüssig. Klassisches Beispiel: Zwei gleich (gleiche Richtung, Stromdichte etc.) stromdurchflossene Drähte. Die bewegten Elektronen im Draht A "sehen" die bewegten Elektronen im Draht B in Ruhe, aber die (netto positiven) Restladungen im Draht B in relativer Bewegung. Also tritt eine Lorentzkontraktion der positiven Ladungen auf und deren Dichte erhöht sich damit (da die Ladung selbst invariant ist). Als Folge tritt die Coloumbkraft auf. Man kann zeigen, daß der klassische Ansatz über die Lorentzkraft des Magnetfelds das exakt selbe Ergebnis für die Kraft liefert, wie der relativistische Ansatz über die Lorentzkontraktion. Soweit alles völlig klar und plausibel.

Nun stellt sich mir aber die Frage, was mit einer ruhenden Ladung in der Nähe eines stromdurchflossenen Leiters passiert. Annahme: Positive Ladung in der Nähe eines stromdurchflossenen Drahtes. Aus Sicht der Ruheladung ist die positive Ladungsdichte im Draht ebenfalls in Ruhe, die negative Ladungsdichte ist aber relativ in Bewegung. Es sollte also Lorentzkontraktion stattfinden und als Folge eine Coloumbkraft auftreten. Die klassische Elektrodynamik sagt aber, daß auf eine ruhende positive Ladung im magnetostatischen Feld des Drahtes keine Kraft wirkt.

Wo ist mein Denkfehler?

Interessanterweise drücken sich praktisch alle Autoren um dieses Beispiel, bei denen sind immer beide Inertialsysteme irgendwie in Bewegung. Siehe z.B. Demtröder EP2 ab 3.4.3.

P.S. Ich stelle die Frage absichtlich hier und nicht in d.s.p. weil ich a) dort niemanden "kenne" und b) ein kurzer "Blick" hinein mir schon gereicht hat.

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Eric Bruecklmeier
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Die traditionelle Sichtweise ist wohl die:

Die bewegten Ladungsträger im Leiter sind tatsächlich Lorentz-kontrahiert.

Durch die Lorentz-Kontraktion ist ihre Ladungsdichte also erhöht.

Integriert man diese erhöhte Ladungsdichte über ein Stück des Leiters, kommt man also zu einer erhöhten Ladung.

Man geht aber davon aus, daß der Leiter insgesamt elektrisch neutral ist. (Weil eine etwaige Ladung sich schnell ausgleichen würde, nehme ich an.)

Das heißt, daß diese erhöhte Ladung durch die entgegengesetzte Ladung der ruhenden Ladungsträger genau ausgeglichen wird.

Daher spürt eine Probeladung in der Nähe des Leiters keine elektrostatische Kraft.

Soweit die traditionalle Sichtweise.

Allerdings weist [1] darauf hin, daß Experimente [2] eine Anziehung zeigen. Dies wird so begründet: Erstens gibt es im Leiter eine Ladungsverteilung, welche durch die externe Ladung induziert wird, selbst wenn kein Strom durch den Leiter fließt. Außerdem gibt es noch eine zum Strom proportionale Komponente, die in [1] berechnet und in [2] gemessen wurde.

Für die weiteren Details verweise ich auf [1].

[1]

"The Electric Field Outside a Stationary Resistive Wire Carrying a Constant Current"

Assis et al. 1998/1999

[2]

Jefimenko, Am. J. Phys. 30, 19± 21 (1962).

O. D. Jefimenko, Electricity and Magnetism, 2nd edn. (Electret Scientific, Star City, 1989).

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Stefan Ram

Soweit war ich schon, nur leuchtet mir in der *Argumentation* der Unterschied zum außerhalb mitbewegten Ladungsträger nicht ein:

Ein Ladungsträger der außerhalb des Leiters mit der Driftgeschwindigkeit der Leitungselektronen nebenher fliegt erfährt eine Lorentzkraft.

Ein ruhender Ladungsträger neben dem stromdurchflossenen Leiter erfährt keine Lorentzkraft.

Obwohl in beiden Fällen der Leiter neutral ist und in beiden Fällen eine Relativgeschwindigkeit (in Höhe der Driftgeschwindigkeit) zwischen dem externen Ladungsträger und einer Sorte Ladungen im Leiter besteht. Das scheint mir irgendwie nicht schlüssig. Aber es kann gut sein, daß ich etwas fundamentales übersehe.

Schau ich mir an, Danke!

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Eric Bruecklmeier

Weitere Quellen:

"The charge densities in a current-carrying wire", Denise C. Gabuzda, 1991/1992

"Current-Carrying Wires and Special Relativity", Paul van Kampen, 2012

"Charge Density in a Current-Carrying Wire", Kirk T. McDonald, 2010/2019

(McDonald: "Discussions of the force on a charged particle outside a current-carrying wire often assume that the wire is electrically neutral. This problem explores how this assumption is not quite correct for resistive, current-carrying wires.")

"Theoretical definitions of length and charge and second-order electric fields from steady currents", Tomislav Ivezić, 2015?

(Ivezić behandelt anscheinend die Frage der Längenkontraktion eingehend.)

"Charges and Fields in a Current-Carrying Wire", Dragan V Redžić, 2011.

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Stefan Ram

Stefan sagte, sie sei auch im zweiten Fall gemssen worden. Ich stelle mir das schwierig vor, denn die elektrischen Kräfte auf eine freie Ladung dürften allein durch induzierte Verschiebung erheblich größer sein.

Ansonsten hat ein unbeschleunigtes System keinen Bezugspunkt. Im ersten Fall ruhen der Ladungsträger und die Driftelektronen und der Draht bewegt sich relativ, im zweiten ruht der Draht und die Elektronen bewegen sich. Beides scheint mir bis auf das Vorzeichen der bewegten Ladungsträger identisch.

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Axel Berger

Es geht mir eigentlich gar nicht darum, was tatsächlich auftritt - ich verstehe die Differenzierung in der Argumentation nicht.

das ist das Problem.

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Eric Bruecklmeier

Ich verstehe es so, daß man annimmt, daß der Leiter im Laborsystem neutral ist, weil ein geladener Leiter im Laborsystem sofort durch Ströme wieder neutralisiert werden würde. So schreibt Feynman in [1]:

|The density of the charges at rest in S is ρ₊, which must be |equal to the negative of ρ₋, since we are considering an |uncharged wire. There is thus no electric field outside the |wire, and the force on the moving particle is just

Aber diese Annahme muß nicht für andere Inertialsysteme gelten, in denen ein unendlich langer Leiter durchaus geladen erscheinen kann. So schreibt Feynman in [1]:

|If there is any force on the particle, it must come from an |electric field. It must be that the moving wire has produced |an electric field. But it can do that only if it appears |charged - it must be that a neutral wire with a current |appears to be charged when set in motion.

. [1]

Abschnitt "13-6 The relativity of magnetic and electric fields" in "The Feynman Lectures on Physics", Vol. 2 "mainly electromagnetics and matter".

Reply to
Stefan Ram

Das scheint es zu sein. Obwohl ich gerade Feynman dazu intensiv konsultiert hatte, fiel mir das nicht auf. Danke!

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Eric Bruecklmeier

Eric Bruecklmeier schrieb:

Ich habe das Problem in ähnlicher Form AFAIR schonmal irgendwo gelesen; IIRC ging das so:

Stromdurchflossener, aber insgesamt elektrisch neutraler(?!) Leiter. Dabei besteht der Strom aus negativen Ladungsträgern. Die positiven Ladungsträger im Leiter sind in Ruhe. Neben dem Leiter befindet sich eine ruhende Ladung Q (Elektron).

  1. Sichtweise, aus Sicht der ruhenden Ladung Q: Da der Leiter elektrisch neutral ist, gibt es kein elektrostatisches Feld (E-Feld) außerhalb des Leiters. Der Strom (aus Elektronen) im Leiter erzeugt aber ein Magnetfeld (B-Feld). D.h. die ruhende Ladung Q "merkt" kein E-Feld, aber ein B-Feld. In dieser Situation wirkt *keine* Kraft auf die Ladung Q.
  2. Sichtweise, aus Sicht der bewegten Ladungsträger (Elektronen): Es fließt "rückwärts" ein Strom aus positiv geladenen Ionen im Leiter, während die Elektronen im Leiter ruhen. Da der Leiter weiterhin neutral ist(?!), gibt es (weiterhin) kein E-Feld. Allerdings gibt es (wieder) ein B-Feld aufgrund des Stroms der positiven Ladungsträger. Das Elektron Q außerhalb des Leiters bewegt sich ebenfalls "rückwärts". D.h. die - jetzt bewegte - Ladung Q "merkt" kein E-Feld, aber ein B-Feld. Da die Ladung Q jetzt *bewegt* statt ruhend ist, *wirkt* in dieser Situation eine Kraft F, nämlich die Lorentzkraft.

D.h. je nach Sichtweise kommt man einmal zur Aussage "es wirkt keine Kraft auf Q" oder "es wirkt eine Kraft auf Q".

Es kann sein, daß dies als Paradoxon irgendeinen Namen hat(?).

IIRC war die Auflösung des Paradoxons, daß aus Sichtweise der bewegten Elektronen im Leiter der Leiter doch *nicht* *neutral* ist, was zu einem (zusätzlichen) E-Feld führt, welches das B-Feld gerade so kompensiert, daß doch keine Kraft auf Q wirkt: Coulombkraft wegen E-Feld und Lorentzkraft wegen B-Feld heben sich gegenseitig auf.

Wie gesagt dürfte es damit zusammenhängen, in welchem Bezugssystem der stromdurchflossene Leiter überhaupt als neutral betrachtet wird.

Dazu fällt mir gerade ein weiteres Problem auf: Wenn ich einen neutralen Leiter ohne Stromfluß habe, und dann fließt "plötzlich" ein Strom durch den Leiter (z.B. weil ich den Strom einschalte): Ist der Leiter dann noch elektrisch neutral? Das Problem ist, daß sich dann Ladungsträger bewegen(!), was theoretisch zur Lorentzkontraktion führen sollte. (Oder doch nicht? Oder ist diese vernachlässigbar?)

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Stephan Gerlach

Zusammenfassend kann man wohl sagen, daß das was als magnetisches Feld bezeichnet wird, eine kleine Delle in der Raumzeit ist, die der im Laborsystem ruhende Beobachter nicht sieht.

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Eric Bruecklmeier

Man könnte auch sagen, daß das magnetische Feld mit dem elektrischen Feld zu einem Feldstärketensor verschmolzen ist, und seitdem keine unabhängige Existenz mehr führt.

Die speziellen Relativitätstheorie kann als eine Theorie verstehen werden, die uns sagt, daß Raum und Zeit als eine Einheit, die Raumzeit, betrachtet werden müssen. Ein Punkt der Raumzeit ist dann in einem bestimmten Bezugssystem durch die vier Größen (t,x,y,z), also die Zeit und drei Raumkoordinaten bestimmt.

Genauso werden die drei Komponenten des elektrischen Feldes E und des magnetischen Feldes B, dann zu den 16 Komponenten des Feldstärketensors F zusammengefaßt.

F = ( 0 E_1 E_2 E_3 ) ( -E_1 0 -B_3 B_2 ) ( -E_2 B_3 0 -B_1 ) ( -E_3 -B_2 B_1 0 )

. Die vier Maxwell-Gleichungen (im folgenden steht "V" für Nabla, "x" für das Kreuzprodukt und der nachgestellte Punkt für die Ableitung nach der Zeit):

V B = 0 V E = rho V x E = - B. V x B = j + E.

nehmen mit einer ebenfalls vier-dimensionalen Stromdichte J dann die folgende einfache Form an:

dF = 0 DF = J

, wobei "dF = 0" mit dem äußeren Differential "d" ausdrückt, daß die 2-Form F geschlossen ist (in diesem Absatz verwende ich jetzt einige Begriffe aus Cartans Differentialformenkalkül, die vielleicht nicht jedem geläufig sind). Mit "D" habe ich oben das Kodifferential geschrieben. Mehr zu diesem eleganten koordinatenfreien Formalismus findet man zum Beispiel in Walter Thirrings Lehrbüchern der mathematischen Physik.

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Stefan Ram

Ja, das ist die klassische Betrachtungsweise - und?

Reply to
Eric Bruecklmeier

Eric Bruecklmeier schrieb:

Diese Sichtweise "magnetisches Feld ist eine Delle in der Raumzeit" finde ich ziemlich gewagt.

Eine Delle in der Raumzeit kommt nach der üblichen Sichtweise AFAIK durch (große) Massen zustande.

Sowohl elektrisches als auch magnetisches Feld sind in der Raumzeit "immer da" (siehe: Feldstärketensor) und das ganze unabhängig von irgendwelchen Beobachtern. Was ein Beobachter x (der sich z.B. in einem Laborsystem befindet) davon sieht, hängt natürlich von diesem Beobachter x ab.

Zudem trifft dies IMHO nicht den Kern des ursprünglich vorliegenden Problems . Wie ich schon schrieb, betrachtet man stromdurchflossene Leiter üblicherweise als nach außen hin neutral. In gewissen Situationen muß man aber genau diese Annahme hinterfragen bzw. präzisieren "in welchem Bezugssystem gilt diese Annahme?".

Manchmal ist die exaktere Betrachtungsweise egal (Bsp.: 2 stromdurchflossene Leiter nebeneinander), manchmal aber eben nicht (Bsp.: einzelne (ruhende) Ladung neben stromdurchflossenem Leiter).

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Stephan Gerlach

Am 28.08.2023 um 20:11 schrieb Stephan Gerlach:

Damit kann ich leben.

Genau da wäre ich mir nicht zu 100% sicher. Bzw. hängt das natürlich stark von der Formulierung ab: Vielleicht könnte man sagen, daß Orte mit B != 0 ein Szenario bieten, so daß ein bewegter Beobachter die Lorentzkontraktion einer Ladungsdichte "sieht". Die Orte nennt man dann von einem Magnetfeld erfüllt.

Ja, eben - das entspricht doch der Frage, ob ein bewegter Beobachter die Kontraktion sieht oder nicht.

Vielleicht verstehst Du mich auch völlig falsch, es geht mir weder um ein Hegern, noch zweifle ich die klassische Elektrodynamik an. Ich frage mich lediglich, ob man unter Zuhilfenahme der Lorentztransformationen ohne den Begriff "magnetisches Feld" auskäme. Ich denke, das ginge - es ist mir aber nicht wichtig genug, um Tage von Arbeit reinzustecken.

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Eric Bruecklmeier

Stephan Gerlach schrieb:

Zumindest für den Laien ist die Situation undurchsichtig.

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Falsch aber lustig verkürzt: Das Magnetfeld ist auch da wenn es nicht da ist.

Reply to
Rolf Bombach

Eric Bruecklmeier schrieb:

[...]

Falls *keine* Ladung (und auch keine elektrischen Ströme) in der Raumzeit vorhanden sind, dann dürfte das sogar stimmen :-) .

Also z.B. ein Universum, in dem es nur Neutronen oder Neutrinos gibt.

Wenn du hier von "Ort" sprichst, dann meinst du mutmaßlich nicht einen Punkt in der (4-dimensionalen) Raumzeit, sondern einen "klassischen" Ort im (3-dimensionalen) Raum.

[...]

Vielleicht ungefähr in der folgenden Art:

Wenn es in einem Bezugssystem S in einem bestimmten Punkt ein magnetisches Feld mit der Flußdichte B gibt, dann gibt es stets ein (anderes) Bezugssystem S', in dem das (dort gemessene) magnetische Feld B' verschwindet, d.h. B'=0? Und das magnetische Feld B in S kann dann irgendwie aus der elektrischen Ladung im Bezugssystems S' (deren Ladungsdichte in S anders gemessen wird als in S') sowie der Relativbewegung zwischen S und S' erklärt werden.

Dabei könnte die (klassissche) Maxwell-Gleichung rot(H) = j + d(D)/d(t) eine Rolle spielen. Der Term d(D)/d(t) könnte sich bei Umsetzung deiner Idee als problematisch erweisen, der ja bedeutet, daß ein Magnetfeld mit der Feldstärke H auch *ohne* bewegte Ladungen erzeugt werden kann, nämlich durch ein sich zeitlich veränderndes elektrisches Feld mit der Flußdichte D.

Denn wenn ich dich richtig verstehe, beinhaltet deine Idee "eine Ladungsdichte 'erfährt' in einem bestimmten Bezugssystem eine Lorentzkontraktion".

Reply to
Stephan Gerlach

Am 31.08.2023 um 19:34 schrieb Stephan Gerlach:

[...]

Ja, so in der Art war es gemeint. Das ist aber letztlich eine andere Formulierung für "...Orte mit B != 0 ein Szenario bieten, so daß ein bewegter Beobachter die Lorentzkontraktion einer Ladungsdichte "sieht". Die Orte nennt man dann von einem Magnetfeld erfüllt..."

Tja, wenn an dem Ort mit H != 0 eine Wirkung des Magnetfeldes festgestellt werden soll, dann muß sich dort eine bewegte elektrische Ladung befinden. Und diese "reagiert" dann halt mit der Flußdichte.

Ich weiß nicht wie ich es griffiger ausdrücken soll. Es kommt wir so vor, als wäre das Vorhandensein eines magnetischen Feldes letztlich eine Option für eine bewegte elektrische Ladung an dieser Stelle mit einer relativistisch kontaktierten Ladung zu interagieren.

genau.

Reply to
Eric Bruecklmeier

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